Dieses Jahr feiern wir in Deutschland und auf der ganzen Welt 30 Jahre Kinderrechte! Denn am 20.11. sind diese seit drei Jahrzenten in der UN-Konvention über die Rechte des Kindes schriftlich verankert.
Gleichzeitig bekommt in Deutschland das Vorhaben, die Kinderrechte im Grundgesetz festzuschreiben, immer mehr Rückenwind – sowohl von Politikern als auch von Kommunen und der Zivilgesellschaft. Auch die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet. Eine Bund-Länder-Gruppe soll bis zum Ende des Jahres einen konkreten Gesetzentwurf vorlegen.
Doch warum sollen die Kinderrechte überhaupt ins Grundgesetz? Gilt die Verfassung nicht schon längst für alle Kinder? Greift man hier in die Selbstbestimmung der Eltern ein? Und was würde sich dadurch verändern?
Wir haben unserem Kinderrechte-Experten Dr. Sebastian Sedlmayr genau diese Fragen gestellt.
Dr. Sebastian Sedlmayr leitet die Abteilung Kinderrechte und Bildung bei UNICEF Deutschland.
© UNICEF/DT2019-63309/Felix Weiss
Warum gehören die Kinderrechte ins Grundgesetz?
In Deutschland spielt das Grundgesetz eine ganz zentrale Rolle. Nicht nur für die Gerichte und die Politik, sondern für die ganze Gesellschaft ist es wie eine gemeinsame Hausordnung. Wenn Kinder in einer solchen grundlegenden Vereinbarung nicht vorkommen – oder eben wie es im Grundgesetz der Fall ist nur im Zusammenhang mit der Erziehung durch die Eltern erwähnt werden – fehlt ein wichtiger Teil der Gesellschaft.
Übrigens ist das Argument, Kinder hätten bereits alle Grundrechte, das in der aktuellen Diskussion immer wieder vorgebracht wird, leider falsch. Kinder haben beispielsweise kein Wahlrecht.
Was fordert UNICEF?
UNICEF Deutschland spricht sich dafür aus, die Kinderrechte, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention vereinbart worden sind, auch in der deutschen Verfassung auszubuchstabieren, so dass es für kein Gericht, kein Parlament und auch keine Privatperson einen Zweifel geben kann, dass diese Rechte in Deutschland gelten. Kinder sind keine „kleinen“ Erwachsenen. Sie sind eigene Persönlichkeiten und brauchen besondere Rechte und besonderen Schutz.
© UNICEF/DT2015-34624/Annette Etges
Was würde sich konkret für die Kinder verändern?
Das kann leider niemand in allen Einzelheiten voraussagen, weil das Grundgesetz zwar ein zentraler, aber eben nur ein Baustein des politischen Systems in Deutschland ist. Die Verfassungsorgane handeln auf dem Boden des Grundgesetzes, aber wie beispielsweise ein Bundesverfassungsgericht einen Grundgesetzartikel des Gesetzgebers auslegt, das entscheidet sich dann immer im konkreten Fall. Und das dauert in der Regel viele Jahre.
Zudem ist die Antwort auf die Frage, was sich verändern würde, davon abhängig, wie genau – also ganz konkret welche textliche Formulierung – ins Grundgesetz aufgenommen wird. Auch an welcher Stelle und wie genau die Änderung vom Gesetzgeber begründet wird ist ausschlaggebend.
Trotz dieser ganzen Unwägbarkeiten sind wir uns sicher, dass mit der klaren Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz ein deutliches Signal an die Gerichte, die Regierung, die Parlamente bis hin zur Gemeindeversammlung, an Staatsanwälte, an Organisationen, die mit Kindern arbeiten, beispielsweise in der Kinderbetreuung, und im Idealfall auch an die breite Gesellschaft ginge.
Das Signal lautet: Kinder haben Rechte, Kinder sind wichtig, Kinder müssen angehört und in den Angelegenheiten, die sie betreffen, auch beteiligt werden.
© UNICEF/DT2015-22323/Hyou Vielz
Würden durch die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz die Rechte der Eltern eingeschränkt?
Gemeinsam mit unseren Partnern im Aktionsbündnis Kinderrechte geht es uns darum die Kinderrechte zu stärken und nicht darum, die Elternrechte zu schwächen. Die Kinderrechtskonvention schützt in Artikel 5 in aller Klarheit die Elternrechte. Deshalb sind wir sehr zuversichtlich, dass die Zweidrittelmehrheit aus Bundestag und Bundesrat, die für die Grundgesetzänderung nötig wäre, genau darauf achten wird, die Elternrechte nicht anzutasten.
Übrigens ist das Elternrecht in dem Formulierungsvorschlag, den wir mit anerkannten Juristinnen und Juristen im Aktionsbündnis Kinderrechte ausgearbeitet haben, auch ganz deutlich hervorgehoben.
Wenn es uns gelingt, bessere Bedingungen zu schaffen, unter denen Kinder bestmöglich geschützt und gefördert werden, dann ist das im Interesse der Eltern. Starke Kinderrechte stärken die Familien und unsere Gesellschaft insgesamt.
Würde das Vorhaben dem Staat nicht mehr Befugnisse einräumen?
Eine kluge Formulierung der Kinderrechte im Grundgesetz würde nicht mehr Befugnisse einräumen, sondern den staatlichen Stellen als Richtung vorgeben, dass bei Entscheidungen, die Kinder betreffen, deren Interessen immer mit abzuwägen sind. In der Kinderrechtskonvention heißt es, dass die Staaten, die dem Übereinkommen beigetreten sind, die Interessen des Kindes als einen Gesichtspunkt vorrangig berücksichtigen sollen. Das heißt vereinfacht gesagt, dass Kinder und ihre Interessen nicht immer Vorrang haben, aber dass sie immer mitberücksichtigt werden müssen. Und das ist heute leider mitnichten der Fall.
Mit der Verankerung der Kinderrechte in der Verfassung würde die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in allen Fragen, die sie betreffen, zum Standard. Wie soll das funktionieren?
Es gibt sowohl in anderen Ländern als auch in Deutschland eine ganze Reihe wunderbarer Beispiele, wie die Interessen von Kindern und Jugendlichen in Entscheidungen einbezogen werden können. Das reicht von Bürgerhaushalten und Stadtplanungsverfahren bis zur Klassenkonferenz in den Schulen. Der entscheidende Unterschied einer Grundgesetzänderung wäre, dass dieses Einbeziehen obligatorisch werden würde. Viele Instrumente sind da und neue werden ständig entwickelt. Aber sie müssen eben auch angewendet werden – für jedes Kind. Nicht nur für einige wenige privilegierte Jugendliche in Stadtparlamenten.
UNICEF möchte, dass der Vorrang des Kindeswohls im Grundgesetz verankert wird – was heißt das?
Der „Vorrang des Kindeswohls“ ist leider eine verkürzte deutsche Übersetzung des englischen Originaltextes der UN-Kinderrechtskonvention. 1990 dachte man in Bonn wahrscheinlich, es sei einfacher, den Text so zu übersetzen, weil das „Kindeswohl“ bereits im Kinder- und Jugendhilfegesetz angelegt war und die Gerichte damit etwas anfangen konnten. Leider trifft der Begriff nicht, was gemeint ist – nämlich die Interessen des Kindes. Und dass es in der Kinderrechtskonvention nicht immer um Vorrang geht, sondern um einen Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist, habe ich oben schon erwähnt.
Also: Wir hätten mit Kinderrechten im Grundgesetz nicht überall kinderfreundliche Städte, Schulen und Kindergärten, aber sicher deutlich mehr davon.